Warum Gendern wichtiger ist als die Meinung von Bernd (54): Eine Glosse über die Ästhetik der deutschen Sprache.
Neulich machte ich einen verheerenden Fehler. Ich war auf Twitter unterwegs und klickte den Hashtag #gendergaga an. Wie eigentlich alle zwei Wochen, gleich nach der Debatte um das N‑Wort und vor der Debatte um die Grünen, stießen dort die Gender-Befürworter*innen und ‑Gegner*innen aufeinander. Zu der zweiten Gruppe gehört auch Bernd. Bernd, der unter seinem Klarnamen twittert, stolz das Geburtsjahr 1967 in seiner Kurzbiografie präsentiert und ein sehr unvorteilhaftes und leicht verschwommenes Selfie als Profilbild nutzt. Mit einer Vorliebe für den Sonnenbrillensmilie nutzt er Twitter vor allem zum Verschicken äußerst hässlicher „Guten Morgen“-Grußbilder. Um all diese Erkenntnisse in einem Satz zusammenzufassen: Bernd ist ein typischer Boomer, wie er im Buche steht. Leider verwechselt er regelmäßig Twitter mit Facebook.
Ein Schauplatz für Unsachlichkeit
Zwischen all den belanglosen Tweets findet sich auch der Eine, der mich überhaupt erstmal auf das Profil aufmerksam machte:
So formten sich die Worte auf dem weißen Hintergrund. Unnötig zu erwähnen, dass ich es sofort bereute, überhaupt auf den Hashtag geklickt zu haben. Meine Kuriosität sorgte leider erneut dafür, dass ich beim Lesen eines Tweets das extreme Bedürfnis verspürte, meinen Kopf gegen eine Wand zu schlagen. Auch ohne dies zu tun, waren sicherlich einige Gehirnzellen abgestorben. Anhand der vorliegenden 280 Zeichen lässt sich die Banalität der Gender-Debatte perfekt darlegen. So liefert Bernd (54) wenigstens für andere Menschen noch einen pädagogischen Mehrwert.
Lasset die Spiele beginnen
Jedes Mal, wenn ohne Grund aufs Neue die Gender-Debatte entfacht wird, scheint es erstmal eine große Mehrheit auf Seiten der Gegner*innen zu geben. Das hat mehrere Gründe. Zunächst sind es vor allem sie, die durch ihr lautstarkes Lamentieren die Debatte überhaupt erst gestartet haben. Zudem haben viele der Menschen, die gendern, auch einfach bessere Sachen zu tun, als mit Leuten im Internet aussichtslose Diskussion zu führen. Sie stehen stattdessen auf der Straße und demonstrieren für Menschenrechte oder suchen nach Rezepten für veganes Hühnchen.
Er gendert mich, gendert mich nicht
Die große Mehrheit hat eigentlich sowieso keine eindeutige Meinung zum Gendern. Vielleicht finden sie es ein wenig klobig und die Sekunde mehr ist es ihnen nicht wert. Aber diesen extremen Hass, den lebt nur ein kleiner, aber sehr lauter Teil der Gesellschaft. Es fällt mir nicht schwer, den großen Teil der Gesellschaft nachzuvollziehen. Lange war ich selbst Anhängerin dieser Denkweise und sagte Sachen wie: „Muss das sein? Ich fühle mich doch angesprochen, wenn Schüler gesagt wird?“ Einfach aus dem Grund, weil Gendern erstmal eine seltsame Sache ist. Alle Sprachen versuchen zu „entgendern“ und Begriffe zu finden, bei denen sich möglichst viele Menschen inkludiert fühlen. Nur wir Deutschen sprechen über das Gendersternchen und beabsichtigte Pausen. Das Konzept ist zudem recht neu und gewöhnungsbedürftig. Seit Jahrhunderten dominiert das generische Maskulinum.
Sei einfach leise
„Bernd ist ein typischer Boomer, wie er im Buche steht. Leider verwechselt er regelmäßig Twitter mit Facebook.“
Unsere Autorin Amelie
Bernd (54) jedoch werde ich niemals nachvollziehen können. Zum Einen frage ich mich, was der Typ, der grelle Bilder von pixeligen Comic-Bären mit Comic-Sans-Text teilt, von Ästhetik weiß. Und zum Anderen würde es mich brennend interessieren, warum gerade er sich von inklusiver Sprache diskriminiert fühlt. Bernd kann gut reden. Er wurde in der Geschichte nie nicht angesprochen. Ob es um Bauern, Soldaten oder Handwerker ging. Immer bekam er das Maskulinum zu hören. Immer war er gemeint. Doch plötzlich soll sich dies ändern. Es wird ihm in gewissen Maßen die Hoheit genommen. Zum ersten Mal wird von Automechaniker*innen gesprochen. Seine Kollegin Maria ist plötzlich genauso gemeint wie er und das, obwohl er dank dem Gender-Pay-Gap immer noch mehr verdient.
Der Chef und seine Sekretärin
Es scheint mir, als würden sich viele genderkritische Männer hinter Floskeln, wie der mangelnden Ästhetik der Sprache, verstecken. Dabei lehnen sie einfach das grundsätzliche Konzept ab. Das simple Ziel, dass sich alle mit einem Begriff angesprochen fühlen, um für mehr Sichtbarkeit zu sorgen und damit keine alten Geschlechterrollenbilder in der Sprache zu reproduzieren und an die jüngeren Generationen weiterzugeben. Denn während das generische Maskulinum allzu gerne für den Handwerker, Richter oder Chef genutzt wird, heißt es plötzlich Sekretärin oder Krankenschwester. Trotzdem werden viele Männer wie Bernd (54) das wohl nie verstehen. Denn mit wirklichen Argumenten ist es schwer, die Mauer aus Floskeln und Meinungen zu durchbrechen.
In eigener Sache Die Herderzeitung verwendet seit ihrer zweiten Ausgabe geschlechtersensible Sprache. Während unseres Projekts „Welt im Wandel“ haben wir uns bei den Projekttagen 2019 damit auseinandergesetzt, was modernen, zukunftsorientierten Journalismus ausmacht und uns dazu entschlossen, stets neutrale Sprache zu verwenden oder mit dem Gender-Sternchen zu arbeiten. Es ist für uns ein Ausdruck von Toleranz und Vielfalt und kommt aktuell am ehesten dem Streben nach einer Konsensform nahe. Dabei folgen wir den Empfehlungen des Journalistinnenbundes und greifen soweit möglich auf leicht lesbare, neutrale Formen wie „Lehrkräfte“ oder die „Klassenleitung“ zurück. Auch sind wir stets so genau wie möglich, nutzen also bewusst „Schülerinnen und Schüler“ oder „Schüler*innen“. |