In Behandlung mit Ärzt*innen, die tausende Kilometer entfernt sind. Noch Utopie oder bereits realisierbar?
Die Pandemie hat unseren Alltag fest im Griff. Schon seit jeher schwächelnd, stellt Covid-19 das amerikanische Gesundheitssystem vor eine ganz neue Herausforderung. Mit über 4,5 Millionen Infektionen sind die Vereinigten Staaten zu Redaktionsschluss das Land mit den meisten Neuinfektionen. Ein Ende dieser katastrophalen Zustände ist noch lange nicht in Sicht.
Keine Krankenversicherung – keine Behandlung
Schon vor der Pandemie stand das Gesundheitssystem der Vereinigten Staaten von Amerika nicht besonders gut da. Im Gegensatz zu vielen europäischen Ländern gibt es in den USA bis heute keine gesetzlichen Krankenversicherungen. Ein Großteil der versicherten Einwohnerinnen ist über dendie Arbeitgeber*in abgesichert. Doch gerade Geringverdiener, für die niemand die Kosten einer Vorsorge übernimmt, können sich private Krankenversicherungen nicht leisten.
Abhilfe sollten die Programme „Medicare“ für Behinderte und Rentner*innen sowie „Medicaid“ für Geringverdiener*innen schaffen. Doch während der ehemalige US-Präsident Barack Obama sich mit dem Patient Protection and Affordable Care Act noch bemühte, sie für die gesamte Bevölkerung zu öffnen, erteilt Donald Trump eine Absage. „Obamacare“ sei schrecklich, teuer und unfair. Eine totale Katastrophe, so Trump vergangenen Oktober auf einer Pressekonferenz in Florida.
Von einem Tag auf den anderen versicherungslos
Jeden Tag zeigt sich für unzählige Amerikaner*innen, wie unsicher und instabil eine Krankenversicherung über den*die Arbeitgeber*in doch ist. Gerade in Zeiten von Covid-19, wenn medizinische Behandlung vielerorts dringender denn je ist, verlieren tausende Amerikaner*innen ihre Arbeit und damit ihre Krankenversicherung.
Dabei gelten die Vereinigten Staaten von Amerika als Hotspot der Corona-Pandemie. Kein Land hat eine höhere Inzidenz an Neuinfektionen. Zugleich sind gegenwärtig über 40 Millionen Amerikaner*innen nicht krankenversichert, Tendenz steigend. Das amerikanische Gesundheitssystem ist schlicht und einfach überlastet.
Die Ansprüche sind nicht hoch, so sahen nur knapp fünfzig Prozent der Amerikaner*innen in einer Statista-Umfrage Handlungsbedarf. Doch können diese menschenunwürdigen Zustände so nicht weiter gehen. Wer den ganzen Tag hart schuftet, der*die sollte auch das Anrecht auf eine angemessene medizinische Behandlung haben. Eine Initiative der Firma OnMed macht Geringverdiener*innen Hoffnung – doch kann ausgerechnet ein privates Projekt wirklich der Weg aus der Krise sein?
Günstiger und flexibler
OnMed hat es sich als Ziel gesetzt, eine kostengünstige gesundheitliche Versorgung für alle Bevölkerungsschichten zugänglich zu machen. Die Gebühren für eine Behandlung sind laut Hersteller OnMed geringer als eine Vor-Ort-Behandlung bei einem*einer Ärzt*in. Die meisten großen Krankenkassen übernehmen die Behandlungskosten, andernfalls kann per Kredit- und Debitkarte gezahlt werden. Gerade zu Zeiten der Pandemie ist OnMed eine flexible Lösung, so sei die Nachfrage seit dem Corona-Ausbruch stark gestiegen.
Behandlung in der Telefonzelle
In Bahnhofshallen, an Flughäfen und in anderen öffentlichen Gebäuden hat der Konzern dafür telefonzellenartige Kästen errichtet, die je zwei Behandlungsräume umfassen. Geöffnet haben die OnMed-Stationen rund um die Uhr.
Auch Firmen und Schulen können eine sogenannte OnMed-Station auf ihrem Gelände aufbauen lassen und so Arbeitenden und Lernenden einen bequemen und kostengünstigen Zugriff auf medizinische Versorgung anbieten. Die Abrechnung erfolgt so besonders leicht über die firmeneigene Krankenversicherung oder zu vergünstigten Tarifen in Folge einer partiellen Übernahme der Kosten durch den Betrieb. Eine mobile Lösung, die auch spontan am Straßenrand abgestellt und betrieben werden kann, befinde sich aktuell in Vorbereitung.
Seiner selbst Krankenschwester sein
Nach Betreten des Behandlungsraums baut OnMed eine Sprach- und Videoverbindung zu einer Praxishilfe in einem zentralen Koordinationscenter auf und verriegelt zu Gunsten der Sicherheit den Behandlungsraum. Zudem wird ein Sichtschutz aktiviert, der die Scheiben der Station tönt. Die Bauweise der mobilen Einheit verhindert die Hörbarkeit des Beratungsgesprächs von außen.
Zu Beginn des Gesprächs fragt ein*e Mitarbeiter*in etwaige Beschwerden ab und leitet Patient*innen bei der Messung ihres Gewichts, ihrer Größe und ihres Blutdrucks an. Im Anschluss werden diese an eine*n ausgebildete*n Ärzt*in weitergeleitet – ebenfalls per Videotelefonie. Auf dem Bildschirm können NutzerÜinnen mehr über ihre*n Doktor*in und dessen*deren Fachgebiete lernen. In unter 12 Minuten soll eine Behandlung abgeschlossen, das verspricht zumindest das Start-up aus Florida.
High-tech zum Anfassen
Nicht nur miteinander sprechen können Mediziner*innen und Patient*innen: Auch bestimmte Messwerte können gleich vor Ort erfasst werden. Über eine Wärmebild-Kamera erhalten die Ärzt*innen Aufschluss darüber, ob der*die Patient*in Fieber hat. Eine Waage im Boden und die Kamera messen Gewicht und Körpergröße. Bei Bedarf kann auf Knopfdruck eine Makrokamera von der Decke herabgelassen werden, um etwa in den Rachen des*der Erkrankten zu schauen. Auch ein Blutdruckgerät ist mit an Bord. Unter der Haube steckt mindestens genau so viel futuristische Technologie: So setzt OnMed zur Gewährleistung der Hygiene auf die antivirale Wirkung von UV-Licht, mit dem nach Ende einer Behandlung alle Oberflächen im Behandlungsraum bestrahlt werden. Diese sind aus einem reflektierenden Material gefertigt, sodass auch unzugängliche Bereiche desinfiziert werden können. Zudem zirkuliert die Luft ständig und wird innerhalb der Klimaanlage mit UV-Licht bestrahlt.
Medizin gleich nach dem Termin
Sollten Medikamente nötig sein, spuckt die OnMed-Station diese binnen Sekunden aus. Hunderte häufig benötigte Arzneimittel lagern nach eigenen Angaben in der Station und werden bei Bedarf autonom in den Behandlungsraum transportiert und über eine Klappe ausgeliefert. Sollte das benötigte Medikament nicht vorrätig sein, übermittelt OnMed ein E‑Rezept an den*die Patient*in oder druckt dieses gleich aus. Ebenso Krankschreibungen können direkt vor Ort ausgedruckt und sofort mitgenommen werden. Auf Wunsch übermittelt der Konzern diese alternativ gleich an die HR-Abteilung bzw. Schulleitung.
Und hierzulande?
Erst zwei Stationen sind auf der Straße, eine im Tampa General Hospital und eine in Milam County Texas. Und trotzdem hat OnMed Medienberichten zufolge schon jetzt Gespräche für eine Expansion in den europäischen Raum gestartet. Bestätigen wollte uns das der Konzern auf Anfrage aber nicht. Zunächst konzentriere man sich auf die Eröffnung weiterer Stationen in den USA, weitere vier bis sechs sollen noch bis Ende des Jahres eröffnen.
Medizinische Ferndiagnose wird kommen, die Frage ist nur wann. Während Videobehandlungen vor der Corona-Krise hierzulande für viele undenkbar waren, steigen immer mehr Ärzt*innen auf die Technologie um. Grundsätzlich sind die deutschen Krankenkassen gegen telemedizinische Angebote nicht abgeneigt, so erklärte der AOK-Bundesverband gegenüber der Herderzeitung: „Die AOKs sind immer an innovativen Versorgungsangeboten im Sinne ihrer Versicherten interessiert. Vor allem zur Sicherstellung einer flächendeckenden gesundheitlichen Versorgung – auch und besonders in ländlichen Regionen. Telemedizinische Angebote können hierbei eine gute Ergänzung sein.“ Konkret zum Angebot von OnMed könne man sich derzeit nicht äußern, es scheine aber eher auf den amerikanischen Markt zugeschnitten zu sein.
Bevor OnMed in Deutschland zum Einsatz kommen kann, bedarf es noch einem umfangreichen Zulassungsverfahren. Nur zugelassene Leistungserbringer*innen dürfen Versicherte hierzulande behandeln, auch nur für deren Behandlungen dürfen die gesetzlichen Krankenkassen aufkommen. Auch die Techniker Krankenkasse schrieb uns auf Anfrage: „Die Leistungen, die eine gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland erbringen darf, sind im SGB V geregelt. Die Richtlinien zur Versorgung werden durch den Gemeinsamen Bundesausschuss (G‑BA) beschlossen und erstrecken sich auch auf die ärztliche Behandlung. Dabei dürfen nur Leistungen durch die GKV erstattet werden, wenn es sich bei dem behandelnden Leistungserbringer um einen durch die K(Z)V zugelassenen Leistungserbringer handelt.“
Sollte OnMed in Deutschland als Leistungserbringer zugelassen werden, muss jede gesetzliche Krankenkasse die Kosten für eine Behandlung übernehmen. Schon jetzt bietet die Techniker Krankenkasse mit der TK-OnlineSprechstunde ihren Versicherten eine Möglichkeit der Fernbehandlung an. Per Videoanruf über das eigene Smartphone werden Ärzt*in und Patient*in miteinander verbunden. Vielfältige Messinstrumente und besondere Makrokameras wie bei OnMed stehen dem medizinischen Personal so aber nicht zur Verfügung.
Die Ärztekammer Berlin gibt allerdings zu bedenken, dass erhebliche Bedenken bezüglich der rechtlichen Rahmenbedingungen für die geplanten Stationen des Unternehmens OnMed bestehen. Ein Unternehmenssprecher erklärt, man sehe die geplante Expansion kritisch: „Wie sind generell skeptisch, ob sich ein solches Produkt in dieser Form in das deutsche Gesundheitssystem implementieren ließe, wären doch zuvor aufgrund der grundlegenden Systemunterschiede der beiden Länder umfangreiche Anpassungen nötig.“
Die (gläserne) Anatomie des Menschen
Auch hinsichtlich des Datenschutzes ist unklar, ob OnMed ohne Anpassungen auf dem deutschen Markt Fuß fassen kann. Durchaus kritisch kann man sehen, dass sensible Patient*innendaten zentral auf den Servern des Konzerns gespeichert werden. OnMed selbst hält dem entgegen und beteuert, man speichere keine Aufnahmen.
Kurzum sind die Stationen von OnMed ein spannender Ansatz, über telemedizinische Wege die katastrophale Lage in den Vereinigten Staaten von Amerika zu verbessern. Für einen Einsatz in anderen Ländern unter vereinbarem Datenschutz und Achtung der örtlichen Regularien, muss OnMed am eigenen Angebot aber noch feilen. Auch bedarf es noch viel Aufklärungs- und Kommunikationsarbeit, damit Patient*innen ihre Skepsis hinter sich lassen. Nicht zuletzt ist ein einfaches Bedienkonzept vonnöten, damit auch von Altersarmut Betroffene vom System profitieren können.