Deutschland ist auf Aufholjagd: Während die elektronische Patientenakte gerade aus ihren Kinderschuhen herauswächst, stellt die Telematik gleich zwei weitere Neuerungen vor.
Bis Ende 2022 müssen Patient*innen ihren elektronischen Medikationsplan und ihre Notfalldaten von der elektronischen Gesundheitskarte in die digitale Patientenakte überführen lassen, denn ab dem 1. Januar 2023 muss die Gematik die Speicherung auf dem Chip in der Krankenkassenkarte unterbinden.
Die Renovierungen in der medizinischen IT-Infrastruktur bauen auf den Grundsätzen der Nutzerzentriertheit, der Interoperabilität und der Ausfallsicherheit, verspricht die Gematik. „Wir denken unser Angebot und unseren Auftrag komplett neu“, lobt Geschäftsführer Dr. Markus Leyck Dieken. Ein föderiertes Identitätsmanagement, universelle Zugangsschnittstellen und eine moderne Sicherheitsarchitektur würden sicherstellen, dass der Zugriff für angebundene Mediziner*innen einfach gehalten wird, zugleich aber unbefugte Dritte zukunftssicher ausgesperrt werden. Mit dem Umbau der medizinischen Digital-Landschaft einher geht auch die Einführung des e‑Rezepts.
Das e‑Rezept kommt
Die Idee des e‑Rezepts ist nicht neu. Wurde es vor rund dreißig Jahren bei der Vorstellung der Spezifikationen für die elektronische Gesundheitskarte von der Fraunhofer-Gesellschaft noch in einem Sketch verarbeitet, so stand pünktlich zur Jahrtausendwende ein erster Entwurf über die technische Ausführung des Vorhabens, kurz nach dem Lipobay-Skandal, bei dem zwei Arzneimittel des Bayer-Konzerns heftig wechselwirkten. Dabei stand es im Vordergrund, solche chemischen Korrelationen in der Wirkweise von Medikamenten frühzeitig zu erkennen und Patient*innen zu warnen – ein Ziel, das mittlerweile im elektronischen Medikationsplan verwirklicht wurde.
Heute beruht der konzeptionelle Gedanken der elektronischen Patientenakte eher auf der Fälschungssicherheit und Integritätsprüfung ausgestellter Rezepte. Über ein föderiertes Identitätsmanagement signieren Ärzt*innen Rezepte elektronisch. Dabei melden sich die Mediziner*innen auf einem System der telematischen Infrastruktur an, unterschreiben Rezepte digital über eine Chipkarte in ihrem elektronischen Heilberufsausweis und übertragen sie anschließend auf einen Server innerhalb der TI.
Die Patient*innen bekommen nun nicht mehr das tatsächliche Rezept in physicher Form überhändigt, sondern lediglich noch einen eindeutigen Token, über den Apotheken das Rezept auf dem Server ausfindig machen und entschlüsseln können. Diesen können Kund*innen entweder in der eigens für diesen Zweck entwickelten App der Gematik über die Anmeldedaten ihrer Versichertenkarte abrufen oder aber in Papierform mitnehmen. Über im Rezept gespeicherte Dispensierungshinweise der Praxis kann die Apotheke ihre Kund*innen fachkundig und personalisiert über die Dosierung und die Zunahme aufklären. Nach der Ausgabe des Medikaments wird das Rezept von der Apotheke auf dem TI-Server invalidiert, sodass es nicht zu einer Mehrfacheinlösung kommen kann. Alternativ bestellen Patient*innen das Arzneiprodukt in Sekundenschnelle über die App bei einer Onlineapotheke und bekommen es nach Hause geliefert.
Mit dem E‑Rezept wird nicht nur die Kompromittierung der Systeme durch personelles Fehlverhalten und die Missachtung der Vorgaben im Umgang mit sensiblen, verschreibungspflichtigen Medikamenten wie etwa Betäubungsmitteln ausgeschlossen. Vielmehr profitieren die Patient*innen von einer bequemen Handhabe über eine Smartphone-App. Ältere Menschen oder solche, die kein Smartphone benutzen können oder möchten, reichen ihr Rezept wie gehabt abwärtskompatibel per Papierzettel mit einem QR-Code ein. Auch sie müssen dabei nicht auf die Vorzüge der umfangreichen Sicherheitsschwellen verzichten.
Aktuell ist das e‑Rezept nur in rund 50 Berliner und Brandenburgischen Praxen erhältlich und in etwa 120 Apotheken einlösbar. Erst ab dem 1. Oktober können es Ärzt*innen bundesweit anbieten. Ab 2022 löst es das Papierrezept endgültig ab und die Teilnahme am e‑Rezept wird für alle Ärzt*innen und Apother*innen verpflichtend. Ab 2026 sollen e‑Rezepte als letzter Schritt transnational auf europäischer Ebene interoperabel sein, sodass beispielsweise ein in Deutschland ausgestelltes Rezept auch auf Geschäftsreise eingelöst werden kann.
KIM: E‑Mails, die Geld kosten
Eine weitere neue Schnittstelle konzentriert sich auf die Kommunikationen und den Datenaustausch von Ärzt*innen untereinander. Während bislang viele sensible Gesundheitsdaten über unverschlüsselte Faxverbindungen übertragen werden oder mit mehrtägiger Wartezeit postalisch übermittelt werden, soll mit dem Projekt „Kommunikation in der Medizin“ (KIM) ein einheitliches System integraler Bestandteil des Ärzt*innenalltags und des Austauschs von Befunden und Nachrichten werden.
Der Grundaufbau von KIM ist dabei mit dem Versand einer E‑Mail-Nachricht vergleichbar. Über systeminterne Adressen nach dem Schema „ärzt*in@fachdienst.kim.telematik” adressieren die angebundenen Praxen Nachrichten an die Kolleg*innen. Diese werden dann über aus dem Versand von E‑Mails bekannte Protokolle wie SMTP und POP3 übertragen, landen dabei aber ausschließlich auf Servern der KIM-Anbieter*innen, das heißt über das KIM-System können keine Nachrichten an externe Stellen und Privatpersonen gesendet werden. Im Spätsommer wird auch die kassenärztliche Bundesvereinigung an das System angeschlossen, sodass der postalische Versand von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen entfällt. Dass nicht jede*r Nachrichten mit KIM empfangen kann, ist gewollt und auch wichtig, denn KIM-Nachrichten werden elektronisch über asymmetrische Schlüsselpaare (Public Key und Private Key) signiert und die Identität der Empfänger*innen vor der Zustellung geprüft und dokumentiert. Abgerechnet wird der Dienst pro Nachricht und kostet Versender*in und Empfänger*in dabei jeweils Beträge im zweistelligen Centbereich.
Wirklich nützlich ist das KIM-System zum gegenwärtigen Zeitpunkt aber noch nicht, denn die Dateigröße für Anhänge ist auf maximal 25 Megabyte beschränkt – deutlich zu wenig für hochauflösende Röntgenbilder oder gar MRT-Aufnahmen.
Was die Zukunft bringt
Viele der vorgestellten Entwicklungen befinden sich noch in der Testphase und haben noch mit Kindheitskrankheiten zu kämpfen. Das Internet ist auch in der Medizin Neuland. Während die technologische Entwicklung exponentiell voranschreitet (Mooresches Gesetz), sind viele Behörden und staatlich regulierte Anwendungen noch immer nicht im postmodernen Zeitalter angekommen. Neuerungen, die vielversprechend klingen, sind woanders schon altbewährt. In einer vergangenen Ausgabe haben wir vorgestellt, wie in den Vereinigten Staaten Behandlungen in der Telefonzelle durchgeführt werden. Im Baltikum funktioniert das transnationale Einlösen von Rezepten schon lange, EU-weit soll es erst 2016 kommen.
Es ist an der Zeit, dass Deutschland und die EU aufholen, um im internationalen Vergleich mithalten zu können. Währenddessen versuchen sich die führenden Technologieanbieter schon an der personalisierten Medizin. In der Zukunft werden Wearables ständig Gesundheitsdaten sammeln, so die Vision der Hersteller*innen. Künstliche Intelligenz soll das Sprungbrett zur personalisierten Medizin sein. Bei Jugend forscht stellt eine Siebzehnjährige eine Künstliche Intelligenz vor, die die Leukozytendifferenzierung für die Leukämiediagnostik souveräner als erfahrene Ärzt*innen beherrscht. Großkonzerne wie Google arbeiten an neuronalen Netzen, die Hautkrankheiten zuverlässig per Foto erkennen. „Digital Health [ist der] Aufbruch in ein neues Zeitalter“, titelt das Ärzteblatt.