Ein Interview mit dem Obdachlosen Günther. Die Straße verleiht ihm eine andere Sicht auf die Dinge.
Wir können nur wissen, wie diese Welt funktioniert, wenn wir verstehen, wie andere Menschen – und bestenfalls verschiedene Menschen – denken. In der nächsten Ausgabe der Herderzeitung wird es ein weiteres Interview mit einem Botschafter geben. Im Gegensatz dazu möchte ich diesmal ein Interview mit einem Obdachlosen führen. Es ist der Kontrast zwischen gleichaltrigen Männern, die auf verschiedenen Ebenen der sozialen Pyramide stehen, die unterschiedlich leben und die eine eigene und unterschiedliche Sicht auf die Welt haben.
Ein unsichtbarer und schützender Mantel
Günther ist 46 Jahre alt, groß und schwarzhaarig. Er lag in seinem Schlafsack im Bahnhof Lichtenberg. Als ich ihn ansprach, schaute er mich erwartungs- und hoffnungsvoll an. Im folgenden Interview machte er einen intelligenten und stolzen Eindruck. Ständig grinste er wie ein König, als ob er einen unsichtbaren Mantel trug, der ihn vor der Welt schützte. Trotz seines jetzigen Lebens schien er nichts zu bereuen und hatte gleichzeitig eine inspirierende Art, die mich beeindruckte.
Bei Fridays for Future, verzichten Schüler*innen an manchen Freitagen auf ihre Bildung, um für die Klimarettung zu demonstrieren. Wie ist Ihre Meinung dazu?
„Leonhard, ich halte von diesem ganzen Fridays for Future-Gerede nicht viel, obwohl ich nicht schlecht davon profitiere. Wenn man als Obdachloser zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort ist, dann kann man bei einer Demo ordentlich was bekommen. Außerdem, meine Güte, da wird es zwei bis drei Grad wärmer. Na und? Das ist doch schön. Uns Obdachlosen gefriert das Blut in den Adern und manche sterben vor Kälte. Aber wenn ein paar Korallen absterben, dann wundert sich die ganze Welt und regt sich auf. Das ist doch alles Unsinn. Und dann sind da die vielen Kinder, die die Schule schwänzen. Teilweise gucken sie mir in die Augen und haben nicht das geringste Schuldgefühl, dass sie nicht in die Schule gehen.”
Um beruflichen und persönlichen Erfolg zu erzielen, auf was sollte man unbedingt achten?
„Oh, diese Frage bereitet mir einen Haufen Glück in meinem bereits verdorbenen Herz. Mein Ratschlag: Geht unbedingt zur Schule! Ich weiß, es sieht so aus, als würde die Schule nichts bringen. Aber solange die gleichen Idioten oben auf ihren Stühlen sitzen, wird sich am Schulsystem nichts ändern. Ich war damals nicht zu bändigen, so groß war mein Drang zum Erfolg. Und das war es auch, was mich hierher gebracht hat. Ich wollte mich niemanden unterordnen, nicht mal dem Staat. Daher: Macht, was die Polizei euch sagt! Widersetzt euch nicht den Lehrern. Dann wird alles gut. Versprochen.”
Welche politischen Themen werden zu wenig diskutiert und benötigen mehr Aufmerksamkeit?
„Tja, guck dir doch mal das Schulsystem an, da braucht man doch nicht viel zu sagen.”
Was macht ein Obdachloser?
„In erster Linie versucht er zu überleben, und sei es auch zum Nachteil anderer. Ich sage diese Worte nicht, um einen schlechten Eindruck zu hinterlassen, denn den hat jeder Leser sowieso schon von mir. Ich sage das, weil es hier die Hölle ist, und man einfach instinktiv alles für das blanke Überleben braucht. Ich bettle den ganzen Tag und suche Pfandflaschen. Unser Alltag ist genauso schrecklich wie ihr denkt, dass er es ist. Mehr brauche ich dazu nicht sagen.”
„In erster Linie versuche ich, zu überleben!“
Günther, ein Obdachloser im Interview
Soziale Medien übermitteln viele Informationen und Meinungen. Deswegen haben sie heute einen großen Einfluss auf die Politik. Aus ihrer Sicht, was sind die Vor- und Nachteile?
„Boah, Junge, da bist du aber ganz an den Falschen geraten. Ich denke aber, dass soziale Plattformen einen kleinen Funken in ein großes Feuer verwandeln können. Stichwort Mainstream. Wenn jemand zum Beispiel einem Obdachlosen helfen will, dann kann er im Internet schnell Unterstützer finden. Oft klappt das recht gut. Andererseits kenne ich Leute in Deinem Alter, die erst auf die Seite gingen und viel Spaß hatten, dann aber ihre Psyche zerstörten. Wie gesagt, ich habe da keine besonderen Erfahrungen. Du musst jemand anderen fragen.”
Vielen Dank für das Interview, Günther!
Die Redaktion hat Günther ein Mittagessen ausgegeben. Wir wünschen ihm alles Gute für die Zukunft!