Streaming-Dienste erobern die Herzen der Vielgucker*innen. Das lineare Fernsehen will zukunftsfähig sein: eine Odyssee ohne Ende.
Während Inhalte auf Abruf beim klassischen Fernsehprogramm eine Seltenheit sind, sind diese bei Netflix und Co. schon lange gang und gäbe („Streaming on demand“). Gerade die junge Generation greift deshalb heute auf Streaming-Dienste zurück. Jetzt treffen Inhalte auf Abruf und das lineare Fernsehen zusammen – ausgerechnet bei der Fernsehwerbung.
Ein Hilfeschrei aus der Rundfunkbranche
Nach wie vor zählt das lineare Fernsehen zu den Unterhaltungsmedien schlechthin. Doch vor allem die junge Generation wandert zunehmend ab. In unserer dritten Ausgabe hat Simon anschaulich geschildert[1], wieso das lineare Fernsehen für kommende Generationen immer unattraktiver wird. Klar ist deshalb: Es muss sich jetzt etwas ändern, damit die Fernsehsender ihre (noch) guten Quoten auch in Zukunft aufrechterhalten können.
Schon lange versuchen Rundfunkanstalten, das lineare Fernsehen um interaktive Inhalte zu ergänzen, um zukunftsfähig zu bleiben und mit den Streaming-Diensten mithalten zu können. Manch eine*r kennt vielleicht die Aufrufe beim Umschalten, eine Mediathek oder weitere Inhalte über den „Red Button“ aufzurufen. Im englischsprachigen Raum bezeichnet dieser Begriff tatsächlich einfach den rotgefärbten Druckknopf auf der Fernbedienung. Hierzulande ist eher durch das interaktive Angebot der ProSiebenSat.1‑Gruppe geprägt, die auch immer wieder aktiv dafür wirbt. Doch auch die öffentlich-rechtlichen Programme binden ihre Mediatheken in die Fernsehgeräte ein.
HbbTV – ein Standard, der das Fernseherlebnis veränderte
All das ermöglicht der offene Standard „Hybrid Broadcast Broadband TV“, kurz HbbTV. Dahinter steckt eine internationale Vereinigung, die laufend neue Spezifikationen veröffentlicht, um digitale Applikationen auf einem Fernsehgerät lauffähig zu machen. Die Voraussetzungen dafür sind relativ gering gehalten: ein Decoder für Digitalfernsehen und eine Internetanbindung. Beides dürfte heute wohl kaum noch ein Fernseher missen, sodass die meisten neueren Geräte mit HbbTV-Unterstützung daherkommen. Doch sind die technischen Ressourcen vieler Geräte nicht besonders langlebig: Gerade auf älteren Geräten mit wenig Arbeitsspeicher, die nicht auf die Rechenintensität heutiger Inhalte ausgelegt sind, gestaltet sich das Umschalten oftmals als zäh.
Ebenso den pixeligen Teletext mag manch eine*r als längst ausrangiert vermuten. Und doch ist er immer noch unglaublich populär. Die Gewerkschaft ver.di spricht gar von „eine[m] Relikt der 80er Jahre“, das „nicht totzukriegen“ ist. Auch hier setzt HbbTV an, um dieses Medium in höherer Auflösung und mitsamt Videoinhalten zukunftsfähig zu machen. Zu den Vorreitern zählt hier der Rundfunk Berlin-Brandenburg (rbb), der schon seit Jahren sein umfassendes Teletextangebot neugestaltet.
„Die Veröffentlichung der HbbTV-TA-Spezifikatio-nen markiert ein neues Kapitel in der digitalen Umgestaltung von Rundfunkanstalten.“
HbbTV Association
Werbung für jede*n
Die neuste Weiterentwicklung im HbbTV-Standard dürfte viele wohl eher weniger freuen, denn sie schafft eine Schnittstelle für zielgruppengerichtete Werbung. So werden Nutzer*innen, die gerade „hundkatzemaus“ geschaut haben, womöglich Werbung für Tierfutter eingeblendet bekommen. Wer hingegen regelmäßig Automagazine schaut, bei dem dürfte die Werbeanzeige für einen neuen SUV nicht allzu lange auf sich warten lassen.
Damit jede*r Zuschauer*in individuelle Werbeeinblendungen angezeigt bekommt, werden eine Reihe von Daten ausgewertet. Das eigene Werbeprofil basiert vor allem auf dem eigenen Nutzungsverhalten, aber auch persönliche Daten, wie der Gerätestandort und die Altersspanne, fließen mit ein. Der technische Aufbau von HbbTV-Inhalten ist ähnlich zu den Computersprachen, die auch im Internet zum Einsatz kommen. Wie beim Browsen auf dem Smartphone oder Computer werden sogenannte Cookies auf dem Fernseher abgelegt. Diese erlauben es, den*die Nutzer*in über mehrere Seiten und Sender hinweg wiederzuerkennen.
„Die Veröffentlichung der HbbTV-TA-Spezifikationen markiert ein neues Kapitel in der digitalen Umgestaltung von Rundfunkanstalten“, sagte Vincent Grivet, Vorsitzender der HbbTV Association. „Während sie ihren einzigartigen Vorteil behalten, einen großen Massenmarkt anzusprechen, können sie nun auch ein sehr differenziertes Publikum ansprechen.“
Die Technik dahinter
Damit personalisierte Werbung ausgespielt werden kann, muss zunächst die Rundfunkanstalt über eine Anwendungsschnittstelle (API) an ein zentrales Server-Backend melden, dass sich in der nahen Zukunft eine Platzierungsoption für Werbung bietet. Dieses Backend wählt im Anschluss eine geeignete Anzeige aus und übermittelt sie an das Empfangsgerät des*der Nutzer*in. Je nach verfügbarem Speicherplatz werden bis zu 30 Sekunden Werbung vorab abgespeichert, um Unterbrechungen zu verhindern und ein natives Seherlebnis zu gewährleisten. Sobald die Anzeige erfolgreich ausgespielt wurde, sendet das Empfangsgerät eine Bestätigung zurück an das Backend. So kann den Inserent*innen versichert werden, dass ihre gebuchte Werbeeinblendung auch tatsächlich zustande gekommen ist. Im Anschluss werden die Rundfunkbetreiber*innen von den Anzeigenkund*innen ausgezahlt.
Von all dem soll der*die Zuschauer*in allerdings möglichst wenig mitbekommen. Immer dann, wenn der Fernseher vom linearen Programm auf eine Anzeige aus dem Internet wechselt, wird ein aussagekräftigts, aber unwichtiges Signal für den Fall gesendet, dass doch einmal nicht alles reibungslos funktioniert. So wissen die Nutzer*innen bestenfalls gar nichts davon, dass eine Anzeige speziell auf sie zugeschnitten ist. Auch die Vorabspeicherung von Inhalten trägt zu einem augenscheinlich nativen Fernseherlebnis bei.
Allgemein gesprochen schafft die Technik ganz neue Perspektiven. So kann neben den Werbeeinblendungen etwa bei den Nachrichten dasselbe Signal überregional oder gar deutschlandweit gesendet werden, während die Regionalnachrichten über den neuen HbbTV-Standard eingespielt werden. Auch Hör- oder Sehbehinderte können durch die Einblendung von Gebärdensprache oder auditiven Beschreibungen des Bildes unterstützt werden, ohne dass alle anderen etwas davon mitbekommen.
Big Brother is watching lineares Fernsehen
Doch trotz der umfangreichen Einsatzmöglichkeiten bringt HbbTV nicht nur Komfort mit sich. Vor allem werden Nutzer*innen in einer weiteren Lebenslage überwacht und ihre Daten zu Werbezwecken gesammelt.
„Anders als beim herkömmlichen Fernsehen entsteht durch die Internet-Verbindung ein Rückkanal, der Fernsehsendern, Endgeräteherstellern, sonstigen Dritten oder deren Auftragnehmern die Erhebung und Verarbeitung von Daten über das individuelle Nutzungsverhalten der Betroffenen ermöglicht, die dann u.a. für Werbezwecke genutzt werden können“, teilt die Berliner Beauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit als zuständige Kontrollinstanz im Sinne der Datenschutz-Grundverordnung[2] im Gespräch mit der Herderzeitung mit. „Damit ist die Möglichkeit zur anonymen Nutzung von Fernsehen als wesentliche Voraussetzung für eine freie Meinungsbildung und zur Wahrnehmung des verfassungsrechtlich geschützten Rechts auf freien Informationszugang als Grundbedingung einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung gefährdet.“
Nach anwendbarem Recht müssen Fernsehanstalten deshalb vor der Nutzung personenbezogener Daten umfangreich über deren Bestimmung und Verarbeitung in einer Datenschutzerklärung informieren und eine ausdrückliche Einwilligung der Nutzer*innen einholen[3]. Dabei genügt es seit Einführung der Datenschutz-Grundverordnung nicht mehr, von einem stillschweigenden Einverständnis auszugehen. Auch etwaige Kästchen im Menü müssen die Konsument*innen aktiv ankreuzen; diese dürfen nicht vorselektiert sein. Und auch wenn Nutzer*innen der Datennutzung wiedersprechen, darf ihnen nicht der Zugriff auf die Dienste verweigert werden[4].
Eine standardisierte Möglichkeit des Opt-outs ist nicht Teil der Spezifikationen. Viele Internetbrowser etwa erlauben, eine „Do-Not-Track“-Anfrage an besuchte Seiten mitzusenden. Bei HbbTV-Applikationen und Targeted Advertising hingegen müssen Anwender*innen jedem Sender einzeln widersprechen. Die HbbTV Association selbst gibt den Sendeanstalten nur den Rat, die Einhaltung des jeweils anwendbaren Datenschutzrechts sicherzustellen[5].
Auf Anfrage teilte ein Vertreter der HbbTV Association zu den Vorwürfen mit, dass man die Spezifikationen in enger Absprache mit den nationalen Behörden entwickelt habe. Da man selbst allerdings nicht Diensteanbieter sei, sondern nur die technische Grundlage für die Sendeanstalten schaffe, obliegt es diesen, die nationalen Datenschutzbestimmungen zu beachten.
Solange es keine Möglichkeit eines senderübergreifenden Widerspruchs gegen die Nutzung personenbezogener Daten zu Werbezwecke gibt, bleibt den Nutzer*innen also nur, bei der Einrichtung Ihres Empfangsgeräts bzw. der ersten Nutzung von HbbTV-Applikationen ganz genau hinzuschauen. Technisch versierte Nutzer*innen können zudem den Netzwerkverkehr filtern, etwa durch den Einsatz einer Firewall. Im Zweifelsfall bleibt es für besorgte Nutzer*innen das Beste, die Internetverbindungen des Smart-TVs lieber gar nicht erst einzurichten.