Bereits seit einiger Zeit experimentiert die Landwirtschaft mit verschiedenen Methoden, um die Milcherträge ihrer Kühe anzukurbeln. Die erste Farm experimentiert in Moskau nun mit VR-Brillen.
Bereits seit einiger Zeit experimentiert die Landwirtschaft mit verschiedenen Methoden, um die Milcherträge ihrer Kühe anzukurbeln. Während amerikanische Landwirte dafür rotierende Bürsten zur Massage installieren, sind in Europa vor allem Robotersysteme im Einsatz, die die Bewegungsfreiheit der Nutztiere optimieren. In vielen Vororten Moskaus sind der russischen Nachrichten- und Analyseagentur Milknews zufolge Lautsprecheranlagen in Betrieb, die zur Entspannung der Kühe dienen und die Milchproduktion stimulieren sollen.
Eine Milchmesse
Auf dem sechsten Internationalen Forum für Agroindustrielle Milchproduktion stellten Ende November zahlreiche Aussteller in Moskau neue Ideen vor, um die Milchproduktion zu revolutionieren und um Aufträge und Fördergelder zu werben. Vor allem der Trend zur Digitalisierung war stärker denn je präsent, so haben Mitarbeiter*innen der Farm RusMoloko in einem Vortrag ein Projekt vorgestellt, im Rahmen dessen sie experimentelle Tests mit Virtual-Reality-Brillen an ihrer Farm durchgeführt haben, um die Auswirkungen der Manipulation von Sinneseindrücken auf die Tiere zu erforschen.
Kino für die Kuh
Mithilfe der VR-Brillen wird den Kühen, die am Experiment teilhaben, vorgegaukelt, dass sie auf einer saftigen, grünen Weide stehen, während sie tatsächlich im Stall zusammengepfercht sind. So sollen sie sich entspannen, denn gerade in den kalten Wintern bringen hohe Kontraste die Tiere aus dem Konzept.
Schattierungen von Weiden
Das Team von RusMoloko hat dafür unter Beratung von mehreren Tierärzt*innen eine eigene VR-Brille entwickelt, deren Formfaktor an die strukturellen Merkmale des Kuhkopfes angepasst ist. Zudem wurde das auszuspielende Bildmaterial an die spezifischen Gegebenheiten der Rinderaugen angepasst. Da diese zu den Dichromaten gehören, also nur zwei Rezeptoren für blaue und grüne Farbtöne haben, können sie die Farbe Rot nur kaum wahrnehmen. Zudem besitzen die Wiederkäuer nur eine Sehschärfe von rund dreißig Prozent verglichen zum Menschen, sodass sie nur unscharfe Konturen sehen und Kontraste schwer erkennen. Durch ihr großes Sichtfeld von etwa 330° können sie nur stark eingeschränkt dreidimensional sehen. Eine Software errechnet für die VR-Brillen passende Schattierungen, die im Farbspektrum der Kuh liegen. Ob also tatsächlich bewegungsintensive Simulationen wiedergegeben werden, wie der vom Team verwendete Vergleich zu VR-Brillen indiziert, ist also fraglich.
Nur das Beste für die Kuh
Den Wissenschaftler*innen zufolge soll dabei unter keinen Umständen das Tierwohl beeinträchtigt werden. So solle dem emotionalen Zustand der Tiere gar mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden, denn zahlreiche Studien zeigen, dass in einer ruhigen Atmosphäre die Menge und Qualität der Milch deutlich zunehmen kann. Als Beispiel führt die Forscher*innengruppe einer Studie der niederländischen Universität Wageningen auf. Nach eigenen Angaben sollen die Umweltbedingungen rund um die Kuh erheblichen Einfluss auf ihre Gesundheit und infolgedessen auf die produzierte Milch haben. Einen ähnlichen Zusammenhang entdeckte das schottländische Rural College nach zahlreichen Interviews mit Landwirten, die mithilfe verschiedener Systeme versuchen, den Tierschutz auf ihren Höfen zu verbessern. Erste Ergebnisse zeigen, so die Forscher*innen, einen Anstieg der „allgemeinen emotionalen Stimmung der Herde”. So sei ein „Rückgang der Angstzustände” auf die VR-Brillen zurückzuführen.
Eine Therapie mit Nebenwirk-ungen
Obwohl die Forscher*innen betonen, dass eine Steigerung des Tierwohls bereits jetzt zu beobachten sei, befürchten Tierschützer*innen jedoch eher negative Einflüsse auf die Gesundheit der Tiere. Trotz des einzigartigen Erlebnisses ist wahrscheinlich jedem*jeder, der*die schon einmal eine VR-Brille aufhatte, aufgefallen, dass gerade bei einer niedrigen Auflösung Schwindelgefühl keine Seltenheit ist. Gerade bei Kühen scheint das nicht unwahrscheinlich, zumal sie doppelt so viele Bilder pro Sekunde wie Menschen verarbeiten können. Neben einer Orientierungslosigkeit können gar Symptome im Ausmaße einer Augenüberlastung, verschwommenen Sehens und Akkommodationsstörungen, bis hin zu Kopfschmerzen, Müdigkeit, Übelkeit und Konzentrationsstörungen auftreten. Alle diese Folgen sind Schutzreaktionen, mit denen der Körper versucht Gifte auszuleiten, die er für die unüblichen Sinneseindrücke verantwortlich macht. Auffällig ist auch, dass der lange Ethikkodex, den die Farm RusMoloko auf ihrer Webseite bereitstellt, keine einzige Passage zum Tierwohl aufweist.
In Moskau sollen nun weitere Beobachtungen in umfassenden Studien dargelegt werden, um schon bald das Projekt zu skalieren und den Sektor der Milchproduktion zu modernisieren.
Entgegen vieler Medienberichte wird die Aktion allerdings nicht vom Landwirtschaftsministerium der Region Russland durchgeführt, das so gar nicht existiert und einem Übersetzungsfehler entspringt. Vielmehr wird der Blog Milknews, der zuerst über das neue Konzept berichtete, von der Regierung der Region Moskau ausgerichtet. Deshalb werden alle Beiträge vom Landwirtschaftsministerium der Russischen Föderation in der Originalversion übernommen, ohne die Primärquelle zu nennen.
Auf eine Anfrage durch uns zu diesen Vorwürfen an die Pressestelle von RusMoloko lag zu Redaktionsschluss noch keine Antwort vor. Sollten wir noch eine Rückmeldung bekommen, so wird der Artikel auf unserer Webseite entsprechend aktualisiert.
Fazit: Besser anders herum
Dass russische Unternehmen neue Wege suchen, die heimische Milchindustrie zu stärken, ist durchaus verständlich, da das Angebot von Milchprodukten seit den Sanktionen auf diverse EU-Lebensmittel eingebrochen ist. Dennoch sollten stets das Wohl und die Gesundheit der Tiere vorgehen. Auch wenn sich nur schwer feststellen lässt, ob das Verfahren nun mehrheitlich Vorteile bringt oder eine Gefahr für die Tiere darstellt, ist es immer besser, die tatsächlichen Haltungsbedingungen zu verbessern, als ihnen nur eine saftige Weide vorzutäuschen. Ein besserer Ansatz ist ein Projekt aus einem Lüneburger Landkreis. Im April dieses Jahres entwickelte der Projektleiter Benito Weise vom Landwirtschaftlichen Bildungszentrum mit seinem Team dort eine Software, die es den menschlichen Stallplaner*innen erlaubt, sich per virtuelle Realität in eine Kuh hineinzuversetzen. So kann man den Stall aus Sicht der Kuh wahrnehmen und gezielt Stressfaktoren abbauen. Denn nur bei artgerechter Handlung profitieren sowohl Tier als auch Mensch.